22.-23.06.2022 am IBZ St. Marienthal
Der Abbau von Sprachbarrieren ist ein wichtiger Baustein für eine voranschreitende wirtschaftliche Entwicklung des deutsch-polnischen Verflechtungsraums, ein Beitrag zur europäischen Integration und zur Steigerung der Lebensqualität auf beiden Seiten der Grenze. Um die Grenzbundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen in ihren Bestrebungen bei der Vernetzung des Polnisch-Angebots zu unterstützen, verfolgte die Konferenz das Ziel, Akteur*innen aus der Nachbarsprachbildung der einzelnen Bundesländer und ihre Erfahrungen zusammenzuführen, Modelle guter Praxis vorzustellen und den Austausch anzuregen. Diese Erfahrungen und Modelle wurden durch ein Rahmenwerk kontextualisiert, bestehend aus programmatischen Papieren auf europäischer, bilateraler, Bundes- und Länderebene, bzw. auf der Ebene der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft, die sich der Förderung der Mehrsprachigkeit in Europa und speziell im deutsch-polnischen Verflechtungsraum widmen („Synopse“, s.u.). Der vorliegende Abschlussbericht fasst die Ergebnisse der Fachtagung zusammen, um eine Grundlage für die weitere Arbeit zu schaffen.
1) Programm
Vertreterinnen und Vertreter von Universitäten, Ministerien und Behörden sowie Praktiker*innen aus den Schulen der an Polen grenzenden Bundesländer trafen sich am 22./23. Juni 2022 auf Einladung von KoKoPol zu einem Austausch über das jeweilige Spektrum der Aktivitäten zur Vermittlung der polnischen Sprache. Dabei lag der Schwerpunkt auf dem schulischen Lehrangebot sowie der ministeriellen und akademischen Unterstützung bei dem gemeinsamen Ziel, mehr Akzeptanz und Interesse an Kultur und Sprache des östlichen Nachbarn zu generieren.
Nach dem Tagungsauftakt mit einem Impulsvortrag über die relevanten Vertrags- und Programmpapiere zum Polnischen bzw. zur Mehrsprachigkeit in Europa durch Prof. Dr. A. Wöll (Potsdam) sprach Dr. Anna Mróz (Greifswald) über die KMK-Berichte zur Situation des Polnisch-Unterrichts in Deutschland und zog ihre Schlussfolgerungen. Anschließend stellten die drei Grenzbundesländer ihre jeweiligen Ansätze zum Polnisch-Spracherwerb vor. Ausgehend von einer politisch-verwaltungstechnischen Vorstellung der jeweiligen Rahmenbedingungen gab je eine Universität (Universität Greifswald, Europa-Universität Viadrina, TU Chemnitz) Einblicke in die Polnisch-relevante Forschung bzw. Lehre des jeweiligen Bundeslandes, bevor je ein Beispiel guter Praxis aus einer Schule (Löcknitz, Frankfurt/Oder sowie Görlitz) den anschaulichen Teil mit der Umsetzung der Ziele darstellte.
Sichtbar wurde, dass in allen drei Bundesländern erfolgreiche Arbeit, die an steigenden Schüler*innen- und Lerner*innenzahlen abzulesen ist, geleistet wird. Deutlich wurde zudem, dass einzelne Projekte besonders erfolgreich sind und deren Ansätze somit auch von anderen übernommen werden können. Im Lauf der Tagung wurde immer wieder auf die Übertragbarkeit solch erfolgreicher Maßnahmen wie „Nachbarspracherwerb von der Kita bis zum Schulabschluss“ in Mecklenburg-Vorpommern, dem systematischen frühkindlichen Spracherwerb in sächsischen Kitas oder der gezielten Förderung von Mehrsprachigkeit und Polnisch als Nachbarsprache in Brandenburg hingewiesen.
Deutlich wurde zudem, dass die Bemühungen der Kultusministerkonferenz (KMK) zur Förderung von Polnisch als Fremd- und als Herkunftssprache aller Ehren wert, aber durchaus ausbaubar sind. Ein jährliches Monitoring der Unterrichtsentwicklung wäre wünschenswert, ist personell jedoch in den aktuellen Strukturen nicht zu leisten. Die Erfassung des außerschulischen Unterrichts in Polnisch als Herkunftssprache steht ebenfalls aus, kann jedoch nicht durch die KMK oder die jeweils zuständigen Länderministerien erfolgen.
Die Tagung konnte an Hand der vorhandenen politischen und programmatischen Grundlagenpapiere auf europäischer, zwischenstaatlicher, staatlicher und föderaler Ebene einen roten Faden bei der Diskrepanz zwischen intendierten Zielen und ihrer Umsetzung feststellen. Hier bedarf es weiterer großer Anstrengungen aller Bundesländer und der politischen wie zivilgesellschaftlichen Ebene, um dem Polnischen als Nachbarsprache und als Schlüssel zu einem Dialog auf Augenhöhe zu weiterer Verbreitung zu verhelfen.
2) Synopse
Zusammenfassung: In allen programmatischen Papieren (s.u.) wird die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit als Tatsache und zugleich als wichtiger Wert angesehen. Individuelle Mehrsprachigkeit gilt unumstritten als ein Faktor zur Steigerung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt und zur Verbesserung der Lebensqualität. Neben dem Schulunterricht erfahren auch alternative Wege des Spracherwerbs eine Aufwertung: Familie, Begegnung, Mobilität, Internationalisierung der Arbeitswelt ermöglichen die Erweiterung des „klassischen“ Portfolios der Schulfremdsprachen um die Herkunftssprache, Zweitsprache, Nachbarsprache, Begegnungssprache und Fachsprache. Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass Lernprozesse v.a. Sprachlernprozesse sind und die sprachliche Bildung alle Fächer betrifft. Aufgegeben wird das Modell des gleichmäßigen Erwerbs aller fremdsprachlichen Kompetenzen. Vielmehr wird der Fokus zugunsten der mündlichen Kompetenzen verschoben. Sprachliche Bildung wird als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe angesehen, für die nicht nur Schulen (und zunehmend auch Vorschuleinrichtungen) zuständig sind, sondern die ganze Gesellschaft (Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Familie). In diesem Geflecht aus Akteuren gewinnen die Migrant*innen-Organisationen immer mehr als Partner bei der Gestaltung von Bildungsprozessen an Bedeutung. Europa wird als ein Bildungsraum gedacht, in dem nationale/sprachliche Grenzen zu Kontaktzonen werden. In diesen Kontaktzonen haben die Nachbarsprachen eine verbindende Funktion.
Folgende programmatische Papiere auf europäischer, Bundes- und Länderebene, bzw. auf der Ebene der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft wurden für die Tagung ausgewertet:
Teil 1: Papiere der KMK und staatlicher bilateraler Gremien A. Strategiepapier „Förderung der Herkunftssprache Polnisch“ (Beschluss der KMK vom 20.06.2013) B. Ausschuss für Raumordnung der Deutsch-Polnischen Regierungskommission für regionale und Grenznahe Zusammenarbeit o.J. (2019?): Gemeinsames Zukunftskonzept für den deutsch-polnischen Verflechtungsraum. Vision 2030. Hg. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat C. Zur Situation des Polnischunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland (Beschluss der KMK vom 22.08.1991 i.d.F. vom 26.11.2020) D. Gemeinsame Erklärung der KMK und der Organisationen von Menschen mit Migrationshintergrund zur Bildungs- und Erziehungspartnerschaft von Schule und Eltern (Beschluss der KMK vom 10.10.2013) E. Empfehlung: Bildungssprachliche Kompetenzen in der deutschen Sprache stärken (Beschluss der KMK vom 05.12.2019), mit einer Dokumentation der aktuellen Maßnahmen in den Ländern nach den zehn Grundsätzen einer erfolgreichen Stärkung bildungssprachlicher Kompetenzen in der deutschen Sprache
Teil 2: Papiere der (Grenz-)Bundesländer F. Gellrich, Regina u. Thomas Vogel 2019: Nachbarsprachenbildung in den deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Grenzregionen. Erträge der Tagung vom 18.-20.11.2018 in Wulkow bei Trebnitz. Hg. Sprachenzentrum, Europa-Universität Viadrina Frankfurt O. G. Interreg Polen-Sachsen. Europäischer Fonds für regionale Entwicklung. Projekt Smart Integration. Grenzraumstudie für den Sächsisch-Niederschlesischen Grenzraum. Saksońsko-Dolnośląskie Studium Pogranicza. Hg. Sächsisches Staatsministerium des Innern. Wrocław: AQRAT 2019 (Sächsisch-Niederschlesische Grenzraumstudie) H. Nachbarschaftsstrategie Brandenburg-Polen. Strategie des Landes Brandenburg für die nachbarschaftliche Zusammenarbeit im deutsch-polnischen Verflechtungsraum. Hg. Ministerium der Finanzen und für Europa des Landes Brandenburg, Juni 2021, S. 112 I. Neue Wege zur Mehrsprachigkeit im Bildungssystem. Sprachkonzept Saarland 2019, hier: 6. Empfohlene Maßnahmen, S. 171-177
Teil 3: Papiere der Zivilgesellschaft J. Gemeinsamer Forderungskatalog der MSOen in Niedersachsen zu den Themen Sprachenvielfalt in der Schule und Anerkennung der Mehrsprachigkeit (Hannover, Februar 2022)
Teil 4: Europäische Papiere K. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 24. März 2009 zur Mehrsprachigkeit: Trumpfkarte Europas, aber auch gemeinsame Verpflichtung (2008/2225(INI)) L. Empfehlung des Rates vom 22. Mai 2019 zu einem umfassenden Ansatz für das Lehren und Lernen von Sprachen (2019/C 189/03)
Teil 5: Empfehlungen aus Literatur M. Hildebrandt, Stefanie 2012: Relevanz von Mehrsprachigkeit und interkultureller Kompetenzentwicklung in der deutsch-polnischen Grenzregion. Argumentationsanalyse für einen Fremdsprachenfrühbeginn mit der Nachbarsprache. urn:nbn:de:gbv:28-diss2012-0062-0; hier: Empfehlungen zum Umgang mit dem Unterrichtsfach Polnisch in den Schulen der deutsch-polnischen Grenzregion, S. 296 ff.
3) Ergebnisprotokoll der Abschlussdiskussion
In der Abschlussdiskussion ging es darum, wie die Diskrepanz zwischen intendierten Zielen und ihrer Umsetzung zu überwinden sei. Gemeinsam wurde überlegt, welche Hindernisse bestehen und wie sie beseitigt werden können. Nachfolgend werden die in der Diskussion angesprochenen Themen entlang 10 Handlungsfelder zusammengefasst.
1. Ein stärkeres Engagement des Bundes: Bildung ist Ländersache, jedoch hat der Bund den Auftrag, sich für gleichwertige Lebensverhältnisse einzusetzen. Hierin kann man das Interesse des Bundes an einer Steigerung der Kompetenzen in Nachbarsprachen, also auch in Polnisch als Nachbarsprache, verorten. Denn sprachliche Kompetenzen dienen der Ankurbelung der Wirtschaft und der Steigerung der Lebensqualität in den zumeist strukturschwachen Grenzregionen. Polnisch als Nachbarsprache ist ein relevantes Thema für die im April 2019 eingesetzte Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“.
2. Polnischangebote nicht nur in Grenznähe: Der deutsch-polnische Vertrag von 1991 mit seinen die Sprachenförderung betreffenden Artikeln wurde vom Bundesrat ratifiziert und somit die Zuständigkeit der Länder bestätigt. Polnisch wird jedoch in der Regel nur an Schulen in direkter Grenznähe angeboten, die während der Tagung vorgestellten „Leuchttürme“ wirken nicht in die Breite. Hingegen gehen Dokumente wie „Vision 2030“ (s. Synopse B) oder die Nachbarschaftsstrategie Brandenburg-Polen (s. Synopse H) von ganzen Bundesländern aus. Der Behauptung, der Bedarf an Polnischunterricht sei mit den grenznahen Angeboten befriedigt, ist zu widersprechen: Eine Wortmeldung aus Bautzen bestätigte beispielhaft einen dortigen akuten Bedarf an Angebot in Polnisch als Herkunftssprache.
Brandenburg meldet Bedarf an Polnischkursen für Beschäftigte an. Entsprechende Angebote können durch KoKoPol oder die viadrina sprachen GmbH vorgelegt werden.
Unabhängig von „versteckten“ Bedarfen soll stärker auf eine Angebotsorientierung gesetzt werden: Es sind die attraktiven Angebote, die den Bedarf wecken.
3. Institutionalisieren: Förderung des Polnischen als Nachbarsprache in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen soll in einem rechtssicheren Rahmen erfolgen. Es soll durch Rahmenpläne und durchgängige Konzepte langfristig abgesichert sein und nicht von Projekt zu Projekt geschoben werden. Vernetzungskanäle sollen dauerhaft installiert, Zuständige, angesiedelt z.B. an Lehrerfortbildungsinstituten, ernannt werden.
4. Finanzsicherheit schaffen: Sprachliche Bildung außerhalb des schulischen Kanons an Fremdsprachen wird in der Regel aus Projektmitteln finanziert, z.B. über INTERREG. Die Antragsstellung kommt zum regulären Arbeitspensum hinzu, eine Sicherheit der Finanzierung wird auf diesem Weg nicht gewährleistet. Papiere wie „Vision 2030“ sind Empfehlungen ohne eine haushaltstechnische Absicherung. Verbesserungen können mit Hilfe von Unterstützer*innen im parlamentarischen Bereich erfolgen.
Neben einer sicheren Finanzierung der Sprachlernangebote, der Vernetzungskanäle und der zusätzlichen Arbeitskräfte wären Zuschüsse zu Bildungsreisen oder Abschlussklassenfahrten nach Polen wünschenswert.
5. Lehrkräftemangel beheben: Es wird über Schwierigkeiten berichtet, Polnische (oder tschechische) Lehrkräfte bzw. Pädagogen anzustellen. In diesem Fall kann für die Anerkennung der Abschlüsse die sog. Experimentierklausel herangezogen werden, also eine „Ausnahme für einen bestimmten Fall“. Die Experimentierklausel funktioniere gut im Falle der ukrainischen Lehrkräfte.
6. Polnische Themen im Lehrplan berücksichtigen: Polnische Themen in unterschiedlichen Schulfächern steigern die Attraktivität der polnischen Sprache. Themen wie die 3.-Mai-Verfassung von 1791, der Warschauer Aufstand von 1944 oder Solidarność stehen selten im Lehrplan. Dabei gibt es viele polnische bzw. osteuropäische Themen, die im aufgaben- und kompetenzorientierten Unterricht als Material dienen könnten, um europäische Fragestellungen zu behandeln.
7. Von der Kita bis zum Schulabschluss: Mehrsprachige Angebote sollen von der Kita bis zum Schulabschluss durchgängig gestaltet sein. Dabei sollen Potentiale des gemeinsamen Lernens gerade im Grenzraum genutzt werden.
8. Prestige des Polnischen steigern: Das Ansehen der polnischen Sprache muss verbessert werden. Maßnahmen hierzu sollen in allen Konzepten zum. Grenzraum berücksichtigt werden. Die derzeitige mediale Darstellung Polens lädt nicht zu Polenreisen ein. Auch wird über Fälle von negativen Reaktionen auf die Nutzung von Polnisch am Arbeitsplatz berichtet.
9. Sprache Lernen=Land besuchen: Im deutsch-polnischen Verflechtungsraum bietet es sich besonders an, Reisen ins Nachbarland zu unternehmen. Als positives Beispiel wird berichtet, wie nach der Überschwemmung 2012 eine Klasse aus Sachsen zwei Wochen lang in Oppeln Aufbauhilfe leistete und nebenher Polnisch lernte. Für Schulaustausch etc. sollten finanzielle Anreize geschaffen werden, s.o.
10. Vorhandene Mehrsprachigkeit nutzen: Mehrsprachigkeit braucht man nicht zu entwickeln, sie ist da und die Grenzräume sind die besten Beispiele für einen mehrsprachigen Alltag. Einer Untersuchung zufolge gab es unter Studierenden einer deutschen Universität 29 Sprachen; dabei wurden die wenigsten von ihnen „klassisch“ gelernt, der Rest wurde auf anderen Wegen erworben. Dies muss Anerkennung finden. Auch muss herausgearbeitet werden, welche Rolle Polnisch in der Sprachenvielfalt des Verflechtungsraums spielt. Derzeit sind z.B. die Zahlen der Polnisch Lernenden an der Europa-Universität Viadrina rückläufig.
KoKoPol wurde beauftragt, das vorliegende Protokoll an seinen Wissenschaftlichen Beirat weiterzuleiten. Der Wissenschaftliche Beirat wird auf dieser Grundlage Handlungsempfehlungen zur Stärkung der Position der polnischen Sprache im deutschen Teil des deutsch-polnischen Verflechtungsraumes erarbeiten.
KoKoPol, im Juli 2022